Foto: aboutpixel.deWer jetzt gerade seinen Schulabschluss macht, kann wahrscheinlich kaum nachvollziehen, dass sich viele ältere Leute wieder auf die Schule freuen. In Stuttgart beispielsweise haben Seniorinnen und Senioren die Möglichkeit, zweimal pro Woche die Schulbank zu drücken. Das Spannende an der Sache: Unterrichtet werden die Senioren von Schülern.

Es ist ein sonniger Freitagnachmittag im April. Die Schülerinnen und Schüler des Fanny-Leicht-Gymnasiums in Stuttgart-Vaihingen haben schon Wochenende - eigentlich. In einem der Schulgebäude herrscht jedoch noch reger Betrieb, in mehreren Klassenzimmern wird unterrichtet. Vorn an der Tafel stehen aber keine Lehrerinnen oder Lehrer, sondern diejenigen, die am Vormittag selbst auf der Schulbank saßen.

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Laut und deutlich

Einer der Schülerlehrer ist Daniel Fröhrer aus der 11. Klasse. Er unterrichtet in einem Minizimmer fünf ältere Damen. Ein französischer "Asterix und Obelix"-Comic steht auf dem Programm. "'Je le pense, oui', sagt der Obelix hier. Was heißt das?", fragt Daniel. "Ich denke nicht", kommt die Antwort aus den Reihen der Seniorinnen zurück. "Nee, nicht ganz. Es heißt 'Ich denke schon'", korrigiert der Gymnasiast. Freundlich, laut und deutlich sagt er das, denn die Hörkraft einiger seiner Schülerinnen ist nicht mehr die beste. Seit eineinhalb Jahren unterrichtet Daniel Französisch und Russische Geschichte im Sozialen Arbeitskreis (SAK). Bevor die Schülerinnen und Schüler selbst lehren dürfen, müssen sie an einem sogenannten "Pädagogischen Tag" teilnehmen. Dort lernen sie, worauf sie im Unterricht mit den Senioren achten sollen. "Wir haben gelernt, dass wir nicht zu schnell oder zu leise sprechen dürfen, sodass uns die Senior-Schülerinnen und -Schüler auch gut verstehen. Oder dass wir groß genug an die Tafel schreiben", berichtet Daniel.

Soziale Kompetenzen stärken

Der SAK feiert in diesem Jahr seinen 46. Geburtstag. Gegründet hat ihn die inzwischen 84-jährige Ruth Schneider, als sie noch Physik-Lehrerin am Fanny-Leicht-Gymnasium war. Ihr ging es zunächst eigentlich nur darum, den Schülerinnen und Schülern mehr soziale Kompetenzen zu vermitteln. Die Sache fing klein an, indem Jugendliche ältere Menschen zum Kaffee einluden oder kleinere Feste veranstalteten. Irgendwann wollten die Seniorinnen und Senioren wissen, was die Schüler eigentlich vormittags in der Schule gemacht haben. Da war die Idee geboren, von der heute beide Seiten profitieren. Die Senioren frischen ihr Wissen auf oder lernen Neues. Die Schüler geben weiter, was sie im Unterricht gelernt haben und können so das Ganze noch mal vertiefen. Schülerlehrer Alexander Tschekan ist in der 12. Klasse und unterrichtet Politik und Geschichte. Zu seiner Motivation, sich im SAK zu engagieren, sagt er: "Natürlich kostet die Vorbereitung Zeit, aber man nutzt sie sinnvoll. Denn man lernt, seine rhetorischen Fähigkeiten zu verbessern und sich so bei mündlichen Prüfungen vor der Klasse und dem Lehrer zu beweisen. Und das nützt mir später auch im Abitur."

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Kein Nachwuchsmangel

Der Senioren-Unterricht findet immer mittwochs und freitags statt. Die meisten Senioren-Schüler belegen an einem Nachmittag drei bis vier Kurse hintereinander. Das Kursangebot lässt keine Wünsche offen: von Kunstgeschichte über Informatik bis Spanisch ist alles dabei. Das Angebot hat sich herumgesprochen. Der SAK hat momentan um die 200 Senior-Schülerinnen und -Schüler. Tendenz steigend. Auch unter den Gymnasiasten herrscht kein Nachwuchsmangel. "Die Schüler sind Feuer und Flamme. Wenn ich in eine Klasse komme und für den SAK werbe, bekommen diejenigen, die schon dabei sind, leuchtende Augen", erzählt Anne Franke. Sie ist die Verbindungslehrerin zwischen der Schule und dem SAK, der vom Stuttgarter Oberschulamt als "AG im Wahlbereich" anerkannt ist. 75 Schülerinnen und Schüler ab der 9. Klasse geben in diesem Schuljahr Unterricht. Weitere 25 aus der Unter- und Mittelstufe engagieren sich ebenfalls im SAK. Sie dürfen noch nicht unterrichten, feiern aber fünf- bis sechsmal im Jahr Feste mit den Senioren, organisieren Kuchenverkäufe oder bemalen Eier zu Ostern. Die 12-jährige Rebekka mag den Umgang mit älteren Leuten: "Sie erzählen uns viel von früher. Viele sind allein und haben sonst nicht viele Leute zum Reden. Ich finde ihre Geschichten von früher richtig interessant."

"... und keiner guckt komisch"

Senioren-Schülerin Annegret Heim nimmt am SAK-Unterricht teil, seitdem sie in Rente ist. "Ich finde diese Gemeinschaft so wunderbar. Man kann sich aussuchen, was man möchte und man braucht keine Vorkenntnisse. Man wird nirgends doof angeguckt, wenn man mal nicht so schnell mitkommt oder keine Ahnung von einem Thema hat", schwärmt sie. Die Schüler-Lehrer findet sie fantastisch: "Wahnsinn, wie diese jungen Leute, die noch nie in ihrem Leben Lehrer waren, sich einfach vor uns hinstellen und Unterricht machen." Auch Erika Justi hat sehnsüchtig ihren 60. Geburtstag, das Mindestalter für den SAK, abgewartet, um endlich am Unterricht teilnehmen zu dürfen. Ihrer Meinung nach werden "wir Senioren reich beschenkt". Dass die ältere Generation an die jüngere auch etwas zurückgibt, hat ihr die Geschichte eines Abiturienten deutlich gemacht. Der Schüler hatte große Angst vor der mündlichen Abi-Prüfung: "Aber dann dachte er sich: 'Schlimmer als beim SAK kann's auch nicht sein', und hat sich vorgestellt, vor ihm säßen wir Senioren und hat seine Antworten einfach so gegeben, wie er sie bei uns geben würde. Die Prüfung lief prima für ihn. Das hat uns gezeigt, dass auch wir in unserem Alter immer noch einen Beitrag leisten können."

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